Die Geschichte des Grabes von Richard Huelsenbeck.

1970er

Zu seinem 80sten Geburtstag im Jahre 1972 kam Richard Huelsenbeck (1892-1974) zusammen mit seiner Frau, der Künstlerin Elisabeth Beate, geborene Löchelt, geschiedene Wolff (1898-1983), nach Dortmund. Er war mit Fritz Hüser (1908-1979) verabredet, beide kannten sich. Hüser wirkte über Dortmund hinaus mit seiner Sammlung zur Arbeiterliteratur, dem Grundstock des heutigen Fritz-Hüser-Instituts. Er verstand „Arbeiterliteratur“ in einem weiten Sinne als „soziale Literatur“1 und korrespondierte 1972 unter der Formulierung „Dokumentation Dortmunder Autoren“. Ein Dortmunder Autor war Richard Huelsenbeck zweifellos. Bereits 1962 hatte Hüser eine Bücherliste zusammengestellt, um eine Grundlage für die weitere Befassung mit Huelsenbecks Werk zu schaffen, der für ihn eine bedeutende Rolle in der deutschen Literatur einnahm und in den Darstellungen des Dadaismus Erwähnung und Würdigung fand.2 Zudem legte er eine Zeitungsausschnittsammlung zu Huelsenbeck an. Fritz Hüser hatte zum 80. Geburtstag in der Stadtbücherei Dortmund eine Veranstaltung mit Bildern, Briefen, Literatur, Fotografien zu Huelsenbeck organisiert. Ihm war daran gelegen, über die Person des Künstlers Verbindungen zwischen Dortmund und internationalen Kunstentwicklungen sichtbar zu machen.

In einer Notiz an die Presse vom 5. Mai 1972 informierte Hüser über den Besuch der Huelsenbecks: „Dr. Huelsenbeck, der mit seiner Frau, einer bekannten Malerin, aus der Schweiz wieder nach Amerika fahren möchte, wo er über 30 Jahre als Emigrant und zugleich angesehener Wissenschaftler gelebt hat, denkt aber doch daran, daß er auch die letzte Ruhestätte in der Gruft seiner Familie findet.“3 Richard Huelsenbeck lebte zur Zeit des Besuches in Minusio im Tessin.4 Er war 1972 ein gefragter Mann auf dem europäischen Kontinent,5 denn er hatte DADA im Züricher Cabaret mitgestaltet: „Seine Verse sind ein Versuch, die Totalität dieser unnennbaren Zeit mit all ihren Rissen und Sprüngen, mit all ihren bösartigen und irrsinnigen Gemütlichkeiten, mit all ihrem Lärm und dumpfen Getöse in eine erhellte Melodie aufzufangen,“ schrieb Hugo Ball zu Huelsenbecks Performances im Cabaret Voltaire.6 So konnte Huelsenbeck noch als Zeitzeuge von den Anfängen des Dadaismus berichten: Hugo Ball (1886-1927), Emmy Hennings (1885-1945), Tristan Tzara (1896-1963), Hans Arp (1886-1966) waren bereits verstorben. Huelsenbeck hatte zudem durch eigene Publikationstätigkeit kontinuierlich darauf hingewirkt, dass er als (Mit)Begründer des Dadaismus nicht in Vergessenheit geriet.

Der Besuch in Dortmund lässt sich deshalb als eine Art Sondierung interpretieren, wie sein Werk eine langfristige Tradierung erfahren könnte: Fritz Hüser teilte über seine Pressenotiz der Dortmunder Öffentlichkeit mit: „Dr. Huelsenbeck hegt auch die Absicht, die Stadt seiner Jugend zur Hüterin seines geistigen Erbes zu machen …“7 Er blieb mit den Huelsenbecks in Kontakt. Kurz vor Huelsenbecks Tod hatte er ihm noch geschrieben.8 Am 24. April 1974 kondolierte er Beate Huelsenbeck und bekundete seine Anteilnahme. Er schrieb: „Ich werde … stets dafür eintreten, daß er die ihm zustehende literarische und wissenschaftliche Würdigung findet.“9

Richard Huelsenbeck wählte für seine Urne die Gruft seiner Familie. Er wurde am Freitag, dem 3. Mai 1974 um 13:00 Uhr im Beisein seiner Tochter Mareile Richardson aus Kanada und Fritz Hüser auf dem Dortmunder Südfriedhof beigesetzt.10 Huelsenbeck hatte sich um die Verlängerung des Belegungsrechtes für die Familiengruft gekümmert.11 Hüser zahlte Ende des Jahres 1974 noch offene Bestattungsgebüren in Höhe von 4 Deutsche Mark.12

1990er

1974 versprach Fritz Hüser der Witwe Richard Huelsenbecks, Beate Huelsenbeck: „Ich werde … stets dafür eintreten, daß er die ihm zustehende literarische und wissenschaftliche Würdigung findet.“13

Literarische und wissenschaftliche Würdigung findet viele Wege. Zum 99sten Geburtstag von Richard Huelsenbeck trommelte der Dortmunder Poet Jürgen ‚Kalle‘ Wiersch die Dortmunder Literaturszene zusammen. Sie nahm die Verpflichtung an: Am 17. Mai 1991 traf sie auf dem Dortmunder Südfriedhof am Grabfeld B22, Grab Nummer 134-135 um den 99sten Geburtstag des „Ober-DADA“ zu begehen: „Wir vermachen Dir unser Huelsenherz“, dichtete Jürgen ‚Kalle‘ Wiersch (1958-2014). Gisela Koch und Monika Littau legten ein Grabgesteck nieder, Helmut Beckers und Richard Ortmann musizierten mit Trichterflöte und Bassklarinette, es wurden Texte von Huelsenbeck vorgetragen. Der Dortmunder Schriftsteller Josef Reding erinnerte daran, dass es in den USA, wohin der DADA-Künstler im Nationalsozialismus emigriert war, zwei Huelsenbeck-Gesellschaften gebe, hier jedoch keine.14 Die Grab-Veranstaltung hatte einen erinnerungspolitschen Hintergrund: 1992 würde die Belegungsfrist für die Gruft auf dem Südfriedhof auslaufen. Die Dortmunder Künstler:innen arbeiteten mit dieser Aktion am langfristigen Erhalt des Grabes als Erinnerungsort für diesen international renommierten DADAisten.

Am 24. April 1992 organisierten zum 100sten Huelsenbeck-Geburtstag Kalle Wiersch, Helmut Beckers, Thomas Kamphusmann, Thomas Kade, Dieter Pougin, Raimund Fleiter, Richard Ortmann, Matthias Schubert eine Soirée: „DADAMADAWA“ war sie betitelt in einer Verschmelzung von DADAsprech und Ruhrgebietsidiom. Zur Gestaltung der Flugblattwerbung für diese Soirée bedienten sie sich bei den traditionellen DADA-Botschaften: „lehrreich und unterhaltsam“, „DADAMADAWA schadet nicht ihrer Gesundheit!“ Mit Unterstützung des Kulturbüros der Stadt Dortmund, des Vereins für Literatur und der Stadt- und Landesbibliothek begann ab 20:00 Uhr die Veranstaltung im Kulturhaus NeuAsseln, Dortmund. Neben Rezitationen und Filmvorführungen trat das Vier-Mann-Theater-Trio Theaitetos aus Münster mit einer dadaesken Text-Ton-Performance samt Wachtelrealisator auf. Der Dortmunder Filmemacher Horst Herz zeigte Filme von René Clair, Man Ray und Hans Richter. Die Veranstaltung brachte vielstimmig zum Ausdruck: „Großer Tor/ wir loben dich“.15 Die Presseüberlieferungen zeigen, dass die Aktivitäten der Literaturszene, den Dortmunder Richard Huelsenbeck ins kulturelle Gedächtnis der Stadt, der Region und der kunstinteressierten weltweiten Öffentlichkeit einzuschreiben, auch von den lokalen Printmedien unterstützt wurden: Der Journalist Rainer Wanzelius titelte die Vorberichterstattung zur Soirée im Kulturhaus NeuAsseln nicht nur: „‘Dada-Fürst‘ Huelsenbeck wäre heute 100 – Grabstätte in Dortmund“; er führte zudem in die Biografie Richard Huelsenbecks ein und schrieb zugleich kenntnisreich in sechs kurzen Spalten eine komprimierte Geschichte des Dadaismus.16

Zum 101sten Jubelfeste organisierten die Dortmunder Literaten erneut eine festliche Abendgesellschaft im Kulturhaus NeuAsseln, diesmal mit dem berühmten Klangskulpteur Erwin Stache und seinen Maschinen aus Schlema im Erzgebirge. Die Programmpunkte lauteten: LALA (Erwin Stache), BÜHNE (Kalle Wiersch), BLABLA (Schaunmama & seine Freunde), KINO (Dada-Filme aus den 20er Jahren), Kunst auf dem Klo (W.C. Ortmann) und Überraschungen. Horst Herz zeigte nun den konstruktivistischen Film „Ballet méchanique“ von Fernand Léger: „Was Richard Huelsenbeck wohl dazu sagen würde? Man weiß es nicht. Man steckt nicht drin. Und frau auch nicht,“ kommentierten die Veranstalter geschlechterinklusiv ihr Programm.

2010er

Im kommunikativen Gedächtnis der lokalen Kulturszene blieb die Verbindung von DADA und Dortmund präsent. Es gab weiterhin eine lebendige, kreative Erinnerungsgemeinschaft. Die internationale Aufmerksamkeit zum 100sten Geburtstag DADAs im Jahre 2016 nutzend, begannen ab 2015 Planungen auf Initiative von Dieter Gawol zusammen mit Anette Göke und Richard Ortmann unter dem Konzept DADADO, mit vielfältigen Aktivitäten rund um den Dadaismus als künstlerischer Ausdrucksform, das ‚Huelsenherz‘ wieder zu beleben. Im Mittelpunkt stand von Anfang an, so auch an den ‚Dortmunder Junge‘ Richard Huelsenbeck als literarischen Urvater zu erinnern und Dortmund neben Zürich, Berlin, New York als Bezugspunkt des Dadaismus zu positionieren. Dem Huelsenbeck-Grab auf dem Südwestfriedhof kam dabei eine bedeutende Rolle als materialisierter Erinnerungsort zu, nachdem das Wohnhaus seiner Eltern in der Dortmunder Luisenstraße bei den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war. DADADO feiert seit 2016 jedes Jahr zum Geburtstag Richard Huelsenbecks die Reanimation des Huelsenherzes auf dem Dortmunder Südfriedhof. Es gibt ein Huelsenherz-Objekt von A.Diéga, das in die jährlichen Zeremonien mit eingebunden wird. Diese Zeremonie schließt dabei das Gedenken an den 2014 verstorbenen Poeten Jürgen ‚Kalle‘ Wiersch mit ein, der in Rufweite zum Huelsenbeck-Familiengrab ebenfalls auf dem Südfriedhof seine letzte Ruhestätte fand.

Die Stadt Dortmund hatte die Grabstelle Huelsenbecks bereits als erhaltenswert eingestuft. Bei Führungen zur Kunst im Öffentlichen Raum macht Rosemarie Pahlke, ehemalige Mitarbeiterin am Museum am Ostwall, auch auf dem Südfriedhof Halt und erklärt hier die Verbindungen zwischen Dortmund und Dadaismus. Sie führte in Dortmund den Begriff „Künstlergrab“ für den Erinnerungsort auf dem Südfriedhof ein. Wie bedeutsam Künstlergräber für kollektive wie individuelle Selbstentwürfe werden können, hat zuletzt Emine Sevgi Özdamar beschrieben: „Dann fuhr ich zum Friedhof Père Lachaise zu Edith Piaf. Du wohnst in Piafs Chanson.“17

Im Jahre 2023 beantragte Richard Ortmann das Pflegerecht für die Grabstätte von Richard Huelsenbeck, es wurde ihm vom Friedhofsamt übertragen. Bis zum „Zeitpunkt einer anderweitigen Verwendung der Grabstätte“18 kann er die Grabstätte weiter pflegen. Dazu gehört die Reinigung und Pflege des Grabes und die jährliche Reanimation und Hibernation des Huelsenherzes. Vor allem aber die Markierung der Grabstätte mit einer Ruhrsandsteinstele, gestaltet von Sandra Wessien, Steinmetzmeisterin aus Dortmund, samt QR-Code von DADADO, über den Kunstinteressierte Informationen zu Huelsenbeck und seiner Verbindung zu Dortmund, zu seiner Literatur und seinen internationalen Kunstkontakten abrufen können. Zur Realisation dieser Stele erfuhr DADADO große Unterstützung durch die kulturinteressierte Dortmunder Stadtgesellschaft: So förderte die Bezirksvertretung Innenstadt-West finanziell die Stele. Stadtdirektor a.D. Klaus Fehlemann, als Förderer von Kunst, Kultur und Kreativität und Vorstand der Freunde des Museums Ostwall in der Stadt hochgeschätzt, öffnete seine Privatschatulle für eine Spende, um für die Huelsenbeck zustehende „literarische und wissenschaftliche Würdigung“, die bereits Fritz Hüser ausgesprochen hatte, ein neues Ausdrucksformat zu institutionalisieren. Nun wird man schon durch die Gestaltung der Grabstätte neugierig, was dieser Ort mit Dadaismus zu tun hat.

Uta C. Schmidt

1  Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Brief Fritz Hüser an den Kulturausschuss der Stadt Dortmund vom 14.01.1954, zit. nach https://www.dortmund.de/themen/studium-wissenschaft-und-forschung/fritz-hueser-institut/fritz-hueser/ [Abruf am 20.05.2024].

2  Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Hue-2525.

3  Pressenotiz Fritz Hüser 05.05.1972, Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Hue-2530.

4  Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, FHI-200-886.

5  Bereits im November 1953 weilte auf Einladung des „Schutzverbandes der Schriftsteller“ Huelsenbeck zu einem Vortrag in Deutschland. Zum 70. zum 75., zum 80. Geburtstag wurde seiner mit mehr oder weniger umfangreichen Artikeln in der Presse gedacht, wie den Zeitungsausschnittsammlungen im Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt sowie dem Literatur-Archiv in Marbach zu entnehmen ist. Zu Huelsenbeck 80stem Geburtstag produzierte der Bayerische Rundfunk ein Feature mit ihm: „Herr DADA erzählt.“ Einem kunstinteressierten Publikum war Richard Huelsenbeck als „Oberdada“ über das Feuilleton in Presse, Funk und Fernsehen bekannt.

6  Ball, Hugo, Die Flucht aus der Zeit, hg. und komm. v. Eckhard Faul und Bernd Wacker, Stuttgart 2018, Eintrag vom 11.03.1916, S. 73.

7  Pressenotiz Fritz Hüser 05.05.1972, Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Hue-2530.

8  Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, FHI-200-886.

9  Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, FHI-200-886.

10  Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, FHI-200-971.

11  Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Hue 21519.

12  24.12.1974 mit handschriftlicher Notiz Hüsers vom 27.12.1974: „Jetzt ist alles erledigt!“, Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, FHI-200-886.

13  Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, FHI-200-886.

14  Artikel von Rainer Wanzelius, WAZ, 18.06.1991.

15  Artikel von Rainer Wanzelius, WR, 15.04.1992.

16  Artikel von Rainer Wanzelius, WR, 17.04.1992.

17  Vgl. Özdamar, Emine Sevgi, Ein von Schatten begrenzter Raum, Berlin 2021, S. 252.

18  Dokument Friedhöfe Dortmund vom 13.06.2023

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